Bildungsmäuschen

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Puzzlearbeit

Zu Ferienbeginn hat mich die Konrektorin mit dem Wunsch auf gute Ferien verabschiedet und ich konnte es mir nicht verkneifen zu erwidern, dass ich gar keine Ferien habe. Ich habe mich anschließend durchaus gefragt, ob ich mich da nicht etwas weit aus dem Fenster gelehnt habe. Keine Ferien? War das nicht nur die kleine wütende Stimme, die es zur Selbstaufwertung nicht lassen konnte den Mund aufzureißen?

War sie schon, sie hat aber durchaus nicht Unrecht. Die Feiertage und alle Aktivitäten sind nur Nebenbeikram. Erledige ich auf kleinster Flamme. Im Mittelpunkt steht weiter meine selbstgewählte Puzzlearbeit um herauszufinden, wie es mit den Emotionen und im Besonderen mit denen in der Bildung so funktioniert.

Diese Arbeit ist merkwürdig, weil sie keine Vorlage hat und die Teile für den Zusammenbau aus sehr verschiedenen Quellen herausfischt. Zu Beginn der Ferien war es die Analyse der Vorkommnisse des letzten Schultages auf den Informationsgehalt der aufgetretenen Emotionen. Danach hatte ich plötzlich eine Idee zum Titel und der Forschungsfrage meiner BA, die sich endlich mal zutreffend zusammengefasst anfühlte. Einige Tage später konnte ich noch ganz einfach den Schwerpunkt meines Referats für die PV im Februar bestimmen.

Heiligabend bestanden Puzzlestücke dann aus der Verfilmung von Cloud Atlas und in der folgenden Nacht noch aus der erste Vorlesung der Campus Nacht zu Bildung und Univers(ali)tät in der Reihe Wissenschaft für Schlaflose des Bildungsfernsehens. Zwei der bedeutenden Erkenntnisse dabei waren erstens, dass ich beim zweiten Ansehen des Films plötzlich erkennen konnte, dass es sich bei Cloud Atlas um eine Auseinandersetzung mit dem Themenbereich handelt, den ich als Rassismus bearbeitet habe und der von Heitmeier als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bezeichnet wird, und dass sich daraus sowohl die Frage nach der Würde des Menschen ergibt als auch die Frage nach den Möglichkeiten von Widerstand. Sehr beeindruckend dabei der Dialog:

„Ganz gleich was Du auch ausrichtest, es wird nie mehr sein als ein einzelner Tropfen in einem unendlichen Ozean!“ – „Was ist ein Ozean, wenn nicht eine Vielzahl von Tropfen?“

Verfilmung von David Mitchell: Der Wolkenatlas, 2012

Die zweite wichtige Erkenntnis wurde von Böhm (2015) vermittelt und bezieht sich einerseits auf eine Einschätzung Adornos, dass Bildungstheorie nur als kritische Selbstreflexion auf Halbbildung möglich ist. Andererseits darauf, dass Bildung als Ziel nicht reine Wissensvermittlung hat, sondern die Heranbildung eines mündigen Individuums, das in die Lage versetzt wird, frei seine Entscheidungen zu treffen.

Genau dafür benötigt dieses Individuum dann Informationen und Wissen dazu, was mit den Emotionen denn nun tatsächlich so vor sich geht. Und nicht nur Regeln, Anweisungen und Anforderungen, die Emotionen immer wieder nur als zu betrachtende, zu kontrollierende und zu manipulierende Erscheinungen im Sinne dominierender Vorstellungen einstufen. Gleichzeitig ist dieses Unterfangen aber immer wieder nur in Unvollständigkeit durchführbar, als fortlaufender Versuch durch Reflexion zum Verständnis sich dabei ständig wandelnder Situationen zu kommen.

Danach folgte das Buch, das mir die Betreuungskinder der Klasse 1b zu Weihnachten geschenkt hatten. Philipp Möller: Isch hab Geisterblitz. Im Gegensatz zu seinem ersten Buch stufte ich es zuerst als zu sehr auf eine Einzelperson ausgerichtet und daher für mich weniger interessant ein, verpasst ihm im letzten Teil aber zunehmend mehr Markierungen. Der benachteiligte Nachhilfeschüler, der in einem Crashverfahren fit gemacht werden soll, um doch noch eine Chance auf den Schulabschluss zu haben, den er für den von ihm gewünschten Ausbildungsplatz braucht, erhält diese Möglichkeit nur durch das Mitwirken und die Unterstützung von vielen Menschen in seiner Umgebung und mit Hilfe vieler kreativer Ideen.

Ganz zum Schluss dann noch der Hammer, ein sehr scharfes Plädoyer von Möller zum deutschen Bildungssystem und eine These:

„Es gibt in Deutschland kein schlechtes Bildungssystem, auch kein ungerechtes – es gibt gar kein Bildungssystem. Stattdessen gibt es sechzehn höchst unterschiedliche (und unterschiedlich gute) Herangehensweisen an die Aufgabe, Kinder und Jugendliche auf das Leben vorzubereiten. Das Leben in einer Demokratie, die nur von aufgeklärten, selbstbestimmten und kritisch-rational denkenden Individuen aufrecht erhalten werden kann; in einer sozial extrem heterogenen Gesellschaft, in der Einkommensunterschiede gigantisch sind und immer weiter wachsen; auf das Leben in einer multikulturellen Gesellschaft, die Toleranz gegenüber allen toleranten Denkweisen voraussetzt; in einer globalisierten Welt, in der Landesgrenzen an Bedeutung verlieren; in einer hoch technisierten Umgebung, die Kompetenzen im Umgang mit virtuellen Realitäten erfordert; das Leben in einer von Wachstumszwang und Leistungserwartung dominierten Wirtschaft, deren Akteure nicht davor halt machen, diesen Planeten sehenden Auges zu zerstören; und als Mitglieder der europäischen Staatengemeinschaft, in der – wenn auch nur am Rande – faktisch Krieg herrscht.“ (Möller, 2015, S.297)

Hier springt mich als Orientierung ein Bildungsideal an, das mit beiden Füßen in der Komplexität der Wirklichkeit verankert ist und sanft segele ich in meinem Alltag zu ganz anderen Themen weiter.

Bücher und Filme transportieren eine spezifisch vorgefilterte Wirklichkeit. Ein Verwandtenbesuch konfrontiert mich mit Meinungen und Haltungen, bei denen ich unmittelbar zu den dahinterstehenden Vorstellungen und Weltkonstruktionen nachfragen kann. Bücher und Filme sind weniger krumpelig und erlauben mehr Distanz. Der Verwandtenbesuch trägt mehr persönliches Konfliktmaterial mit sich.

Ich beobachte Emotionen. Ich bleibe ruhig. Ich frage gezielt nach. Ich mache darauf aufmerksam, dass auch ich einmal danach gefragt werden möchte, was ich eigentlich tue. Ich analysiere die Auslöser für unangenehme Emotionen. Ich stoße auf implizite Haltungen zum Wert von Handlungen, die ökonomischem Nutzen einen höheren Wert geben als sozialem Engagement. Ich entdecke die Falle. Der ökonomische Erfolg ist immer wertvoller als alles andere. Die ökonomisch Erfolgreichen sind die Gewinner, die Eins in der Hierarchie des Notensystems, wobei dieser ökonomische Erfolg auch in spezifischen Formen sichtbar sein muss. Alle Vertreter anderer Werte haben keine Chance und werden auf die Seite der Verlierer eingeordnet. Keine Frage nach Würde, keine Fragen nach Nachhaltigkeit, Sozialverträglichkeit oder Schutz von Ressourcen und Leben. Keine Fragen nach Widerstand, kein Hinterfragen von Werten, keine Vorstellungen dazu, dass eine Änderung der Werte von vielen eine Änderung der Gesellschaft bewirken kann. Kritik ist nicht darauf ausgerichtet Ursachen herauszufinden, sondern Möglichkeiten zur Anpassung zu erkunden. Meine unangenehmen Emotionen haben mich zum Erkennen der Zwickmühle geführt. In diesem Vorstellungssystem habe ich keine Chance und kann nur die ewige Verliererin sein. Besser ich halte mich davon fern und sehe zu, dass es nicht in deprimierender Form auf mich einwirkt.

Ich lese ein  weiteres Buch. Meine Stadtbücherei hat es neu angeschafft und ich habe es ausgeliehen, weil kürzlich auf den Nachdenkenseiten darüber geschrieben wurde. Und natürlich weil es auf Grund meiner Biografie mein Interesse geweckt hat. In gewisser Weise passt es auch zum Thema Emotionen, denn es beschäftigt sich unter anderem mit den Gefühlen von Bäumen. Meine beiden Puzzlestücke sind hier die Vernetzung und Zusammenarbeit von Bäumen miteinander und mit Kleinlebewesen, sowie deren soziale Unterstützung der eigenen Art vor allem bei Buchen, und die Tatsache, dass Wohlleben (2015) Dinge benennt, die sich mit Wahrnehmungen meinerseits decken, die ich aber aufgrund mir vermittelter anderer Erklärungen nicht für tatsächlich zutreffend gehalten habe. Vernetzte und für Erfolg zusammenarbeitende Bäume, die in vielfältiger Weise aufeinander einwirken und in Austausch mit ihrer Umgebung stehen. Wenn das für die schon wichtig ist, dann für Menschen erst recht!

Die Vernetzung und Zusammenarbeit passt wieder zum Inhalt von Möllers Buch. Sie ist es, die es dem benachteiligten Schüler ermöglicht hat erfolgreich zu sein. Die Benennung von ungewöhnlichen, für mich aber nicht abwegigen Sichtweisen durch Wohlleben (2015) hilft mir wiederum in einem Feld anderer Orientierung an mich selbst zu glauben und bei meinem Thema zu bleiben, denn es deprimiert mich, wenn ich mich nicht verstanden fühle, aber auch wenn mir jemand sagt, das womit ich mich beschäftige sei doch selbstverständlich und nicht meine Aufgeregtheit bei der Sache wert.

Mein Fazit: Ich mache keine Ferien, weil ich das gar nicht kann. Ich bin so sehr in mein Thema involviert, dass es mir in den unterschiedlichsten Zusammenhängen ins Auge sticht. Ich versuche das was mir begegnet zu analysieren und das herauszufiltern, was dabei für mich bedeutsam ist. Damit versuche ich mir einen umfassenden Überblick zu verschaffen, mir immer wieder die Bedeutsamkeit meines Themas zu bestätigen, und versuche besser die Art, wie Emotionen im alltäglichen Leben wirksam sind, zu identifizieren. Wichtige Erkenntnisse dazu finden sich häufig an unerwarteten Orten. Bücher, Filme, das Netz, alltägliche Gespräche und Beobachtungen eigen sich dafür in gleichem Maßen. Häufig ergeben sich Zusammenhänge und Querverweise. Gespräche darüber und auch über die Inhalte meines Themas sind allerdings nicht unproblematisch, da für andere häufig zu spezifisch. Gewinnbringender sind beliebige Gespräche, bei denen die Achtsamkeit auf für Bildung und auf für Emotionen relevanten Anteilen liegt, die währenddessen oder anschließend reflektiert werden.

 Referenzen:

Böhm, W. (2015). Bildung und Univers(al)ität: Bildung – Grundidee der abendländischen Kultur. http://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/alpha-campus/auditorium/eichstaett-bildung100.html (zuletzt abgerufen am 28.12.2015)

Möller, P. (2015). Isch hab Geisterblitz. Neue Wortschätze vom Schulhof. Köln: Bastei Lübbe.

Wohlleben, P. (2015). Das geheime Leben der Bäume. Was sie fühlen, wie sie kommunizieren – die Entdeckung einer verborgenen Welt. München: Ludwig.

 


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